Aufbrechen in die Herzkammer der Liebe
Chaya Czernowins viertes Opernwerk weist sie als eine der faszinierendsten Stimmen des zeitgenössischen Musiktheaters aus.
Musiktheater als enorm sinnliches Abenteuer
Der Moment könnte banaler nicht sein. Er geht eine Treppe hinauf, sie kommt diese herunter, ein Honigglas haltend, das ihr aus der Hand fällt. Er hebt es auf und gibt es ihr zurück. Sie warnt ihn, er möge vorsichtig sein, es sei zerbrechlich. Er erwidert, es schiene ihm fest genug. So beginnt eine Liebe. Beginnt so die Liebe?
Eine „Untersuchung über die Liebe“nennt die in Haifa geborene, in Boston lebende Komponistin Chaya Czernowin ihr am Freitag in der Deutschen Oper Berlin mit langem Beifall quittiertes neues Musiktheaterwerk. Vor zwanzig Jahren ließ sie erstmals aufhorchen mit einem Meisterwerk bis heute: „Pnima … Ins Innere“war die Erkundung der Gräuel des Holocaust, die ein Großvater seinem Enkel zu geben versucht: wortlos, dafür mit unscheinbar unter die Haut gehender Tonspur von suggestiver Wirkung. Es folgte für die Salzburger Festspiele die Um- und Fortschreibung von Mozarts „Zaide“-Fragment zu „Zaide/Adama“als Parabel über den Widerstreit der Kulturen, dann vor zwei Jahren ein Eintauchen in die Welt des Kriegs in „Infinite Now“.
Und jetzt das radikal Persönlichste, über das man (nicht?) sprechen, aber auch nicht mehr wirklich singen, aber unendlich viel sagen kann: die Liebe, so flüchtig wie das Fallen eines Honigglases, so unerschöpflich zwischen Begehren und Verdrängung, sich Finden und sich Verlieren, tastender Zuneigung und unerfüllter Abweisung, so rätselhaft in nicht beschreibbaren Gefühlen. Und doch omnipräsent. Was wäre denn allein die Oper ohne die Tausenden Liebesgeschichten, von Monteverdis „Orfeo“an?
Schicht um Schicht bohrt sich Chaya Czernowins „Heart Chamber“in die Herzkammer der Liebe. Dazu braucht es keine „Geschichte“im herkömmlichen Sinn. Das selbst geschriebene Libretto (mit banalen Satzfloskeln bis zum final-kitschigen „I love you“) ist selbst schon wie eine Partitur angelegt: Den beiden zentralen, namenlosen Figuren, sie Sopran, er Bariton (Patrizia Ciofi und Dietrich Henschel sind famosvirtuose Singschauspieler) sind ihre inneren Stimmen beigestellt: ihr ein Alt (Noa Frenkel), ihm ein Countertenor (Terry Wey). Das umfasst also pointiert den Kosmos der menschlichen Stimme an sich.
Als dritte Schicht kommen Passagen mit den aufgezeichneten und eingespielten Stimmen des Quartetts hinzu, dann eine ausgeklügelte Raumakustik als elektronische, das ganze Theater erfassende Tonspur (vom SWR-Experimentalstudio großartig geliefert), weiters ein Crossover-Quartett aus E-Gitarre, Klavier, Saxofon und Percussion sowie ein Kontrabassist („Klangforum“-Mitbegründer Uli Fussenegger
spielt eine sechsminütige SoloOuvertüre mit allen Schikanen der Klangerweiterung nur zweier Töne fulminant) und eine Stimmartistin (Frauke Aulbert). Auf den Emporen postiert: ein sechzehnstimmiges Vokalensemble, im Orchestergraben: Streicher, Bläser, Schlagwerk, alles phänomenal koordiniert und belebt durch Johannes Kalitzke.
Und als ob das nicht genug wäre, legen Claus Guth (Regie), Christian Schmidt (Ausstattung), Urs Schönebaum (Licht) und rocafilm (Video), erfahrene Czernowin-Mitstreiter, weitere Schichten an: Sie erfinden szenisch eine greifbare, doch vexierbildhaft surreal bleibende Liebesgeschichte, die in der werkimmanent abstrakten „Untersuchung“bildhaft (und bildstark) konkrete Anker für das Publikum wirft.
Das Kunststück: Bei allem „Zuviel“, das sich einem im Moment der Aufführung unweigerlich aufdrängt, hebt sich dieser Eindruck, wenn „Heart Chamber“nach und nach sickert, im faszinierenden Sinn nachklingt, Stunden, Tage danach, wie von selbst auf. So gesehen und gehört in den vielfältigsten, minuziös elaborierten, radikal und essenziell verdichteten „Stimmungen“aller klanglichen und szenischen Parameter: eine maßstäbliche Uraufführung, großes, das heißt aber auch: komplexes Musiktheater als enorm sinnliches (Klang-)Abenteuer. Über die Liebe. Und über die Liebe hinaus. Oper: „Heart Chamber“von Chaya Czernowin, Deutsche Oper Berlin, Aufführungen bis 6. Dezember.