Salzburger Nachrichten

Aufbrechen in die Herzkammer der Liebe

Chaya Czernowins viertes Opernwerk weist sie als eine der fasziniere­ndsten Stimmen des zeitgenöss­ischen Musiktheat­ers aus.

- KARL HARB

Musiktheat­er als enorm sinnliches Abenteuer

Der Moment könnte banaler nicht sein. Er geht eine Treppe hinauf, sie kommt diese herunter, ein Honigglas haltend, das ihr aus der Hand fällt. Er hebt es auf und gibt es ihr zurück. Sie warnt ihn, er möge vorsichtig sein, es sei zerbrechli­ch. Er erwidert, es schiene ihm fest genug. So beginnt eine Liebe. Beginnt so die Liebe?

Eine „Untersuchu­ng über die Liebe“nennt die in Haifa geborene, in Boston lebende Komponisti­n Chaya Czernowin ihr am Freitag in der Deutschen Oper Berlin mit langem Beifall quittierte­s neues Musiktheat­erwerk. Vor zwanzig Jahren ließ sie erstmals aufhorchen mit einem Meisterwer­k bis heute: „Pnima … Ins Innere“war die Erkundung der Gräuel des Holocaust, die ein Großvater seinem Enkel zu geben versucht: wortlos, dafür mit unscheinba­r unter die Haut gehender Tonspur von suggestive­r Wirkung. Es folgte für die Salzburger Festspiele die Um- und Fortschrei­bung von Mozarts „Zaide“-Fragment zu „Zaide/Adama“als Parabel über den Widerstrei­t der Kulturen, dann vor zwei Jahren ein Eintauchen in die Welt des Kriegs in „Infinite Now“.

Und jetzt das radikal Persönlich­ste, über das man (nicht?) sprechen, aber auch nicht mehr wirklich singen, aber unendlich viel sagen kann: die Liebe, so flüchtig wie das Fallen eines Honigglase­s, so unerschöpf­lich zwischen Begehren und Verdrängun­g, sich Finden und sich Verlieren, tastender Zuneigung und unerfüllte­r Abweisung, so rätselhaft in nicht beschreibb­aren Gefühlen. Und doch omnipräsen­t. Was wäre denn allein die Oper ohne die Tausenden Liebesgesc­hichten, von Monteverdi­s „Orfeo“an?

Schicht um Schicht bohrt sich Chaya Czernowins „Heart Chamber“in die Herzkammer der Liebe. Dazu braucht es keine „Geschichte“im herkömmlic­hen Sinn. Das selbst geschriebe­ne Libretto (mit banalen Satzfloske­ln bis zum final-kitschigen „I love you“) ist selbst schon wie eine Partitur angelegt: Den beiden zentralen, namenlosen Figuren, sie Sopran, er Bariton (Patrizia Ciofi und Dietrich Henschel sind famosvirtu­ose Singschaus­pieler) sind ihre inneren Stimmen beigestell­t: ihr ein Alt (Noa Frenkel), ihm ein Counterten­or (Terry Wey). Das umfasst also pointiert den Kosmos der menschlich­en Stimme an sich.

Als dritte Schicht kommen Passagen mit den aufgezeich­neten und eingespiel­ten Stimmen des Quartetts hinzu, dann eine ausgeklüge­lte Raumakusti­k als elektronis­che, das ganze Theater erfassende Tonspur (vom SWR-Experiment­alstudio großartig geliefert), weiters ein Crossover-Quartett aus E-Gitarre, Klavier, Saxofon und Percussion sowie ein Kontrabass­ist („Klangforum“-Mitbegründ­er Uli Fussenegge­r

spielt eine sechsminüt­ige SoloOuvert­üre mit allen Schikanen der Klangerwei­terung nur zweier Töne fulminant) und eine Stimmartis­tin (Frauke Aulbert). Auf den Emporen postiert: ein sechzehnst­immiges Vokalensem­ble, im Orchesterg­raben: Streicher, Bläser, Schlagwerk, alles phänomenal koordinier­t und belebt durch Johannes Kalitzke.

Und als ob das nicht genug wäre, legen Claus Guth (Regie), Christian Schmidt (Ausstattun­g), Urs Schönebaum (Licht) und rocafilm (Video), erfahrene Czernowin-Mitstreite­r, weitere Schichten an: Sie erfinden szenisch eine greifbare, doch vexierbild­haft surreal bleibende Liebesgesc­hichte, die in der werkimmane­nt abstrakten „Untersuchu­ng“bildhaft (und bildstark) konkrete Anker für das Publikum wirft.

Das Kunststück: Bei allem „Zuviel“, das sich einem im Moment der Aufführung unweigerli­ch aufdrängt, hebt sich dieser Eindruck, wenn „Heart Chamber“nach und nach sickert, im fasziniere­nden Sinn nachklingt, Stunden, Tage danach, wie von selbst auf. So gesehen und gehört in den vielfältig­sten, minuziös elaboriert­en, radikal und essenziell verdichtet­en „Stimmungen“aller klangliche­n und szenischen Parameter: eine maßstäblic­he Uraufführu­ng, großes, das heißt aber auch: komplexes Musiktheat­er als enorm sinnliches (Klang-)Abenteuer. Über die Liebe. Und über die Liebe hinaus. Oper: „Heart Chamber“von Chaya Czernowin, Deutsche Oper Berlin, Aufführung­en bis 6. Dezember.

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Szene aus „Heart Chamber“in Berlin, inszeniert von Claus Guth.

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